Gesamtmetall-Präsident Dr. Stefan Wolf: „Bei eine Gasnotlage müssen wir auch über eine Nullrunde nachdenken“

Der Chef der Metallarbeitgeber sieht in der Tarifrunde keinen Spielraum für eine prozentuale Entgelterhöhung. Sorgen bereitet ihm, dass der Gasverbrauch noch nicht wie benötigt sinkt.

Herr Wolf, Deutschland steuert auf eine Rezession zu, erste Stimmen warnen angesichts der Energiepreisexplosion vor einer De-Industrialisierung. Wie steht es um Ihre Branche?
Die Lage ist verdammt ernst. In meinen 30 Jahren Berufserfahrung habe ich noch nie erlebt, dass wir eine solche Häufung von Problemen haben. Wenn Sie sich die Stahl- und Aluminiumpreise anschauen, da wird Ihnen schlecht. Der Strompreis für die Unternehmen unserer Industrie ist im August gegenüber dem Vorjahr um 196 Prozent gestiegen, erste energieintensive Betriebe haben Insolvenz angemeldet.

Aber die Auftragsbücher der Metall- und Elektroindustrie sind voll …
Das stimmt aktuell noch, aber in Rezessionsphasen schmelzen Auftragsbestände wie Eis in der Sonne. Und der Auftragsbestand sagt leider überhaupt nichts über Umsatz oder Erträge aus. Die Firmen müssen teuer Material einkaufen und lagern, und am Ende werden viele Aufträge dann doch nicht abgerufen. Oder das Unternehmen verdient nichts mehr daran, weil die Material- und Energiekosten so gestiegen sind. Und wenn jetzt noch eine Rezession kommt, wie sollen wir dann noch höhere Personalkosten finanzieren?

Die Bundesregierung hat eine Gas- und eine Strompreisbremse angekündigt. Reicht Ihnen das an Hilfen für die Industrie?
Ob es hilft, wird von der konkreten Ausgestaltung abhängen. Wird der Gaspreis auf dem momentanen Niveau gedeckelt, nützt uns das natürlich nichts. Helfen würde uns eine Senkung der Unternehmensteuern, der Mineralölsteuer oder die Stabilisierung der Sozialversicherungsbeiträge bei höchstens 40 Prozent.

Die Bundesnetzagentur mahnt, dass Deutschland weiter zu viel Gas verbraucht. Brauchen wir einen Sparzwang per Gesetz?
Wir alle haben das Sparen verlernt, weil wir daran gewöhnt sind, dass es uns gut geht. Deshalb muss mit noch mehr Vehemenz gesagt werden, wie wichtig das Sparen jetzt ist. Wenn der Verbrauch nicht sinkt, laufen wir in eine Gasnotlage mit Produktionsstopps. Deshalb sollten wir auch alle drei Atomkraftwerke weiterlaufen lassen oder wieder ans Netz nehmen, um weniger Gas für die Stromproduktion zu verschwenden.

Kommen wir zur Tarifrunde. Auch in der zweiten Verhandlungsrunde haben die Arbeitgeber noch kein Angebot vorgelegt. Wollen Sie Streiks provozieren?
Nein, ganz sicherlich nicht. Aber wir stehen vor einer Rezession, einigen Unternehmen geht es noch ganz passabel, anderen sehr schlecht. Und da einen Konsens zu finden, was wir der IG Metall anbieten können, ist sehr schwer.

Sie haben der IG Metall vorgeworfen, „blind für die Wirklichkeit“ zu sein. Aber die geforderten acht Prozent gleichen nicht einmal die aktuelle Inflation aus.
Die IG Metall hat ihre Forderung immer aus dem Produktivitätsfortschritt, der EZB-Zielinflation von zwei Prozent und einer Umverteilungskomponente abgeleitet – auch in Zeiten mit null Inflation. Wenn sie systemtreu bleiben will, darf sie jetzt bei hohen Inflationsraten nicht von diesem Schema abweichen.

IG-Metall-Chef Jörg Hofmann verweist auf eine Absprache im letzten Corona-Tarifabschluss, wonach man sich bei den nächsten Verhandlungen anschauen will, ob es noch Nachjustierungsbedarf gibt. So kommt er auf acht Prozent.
Die IG Metall wollte mit der Absprache sichergehen, dass die Beschäftigten einen Nachschlag bekommen, wenn das Jahr 2022 besser laufen sollte, als beim Tarifabschluss im März 2021 während der Coronapandemie absehbar war. Es läuft aber deutlich schlechter.

Was heißt das für die Tarifrunde?
Wenn absehbar ist, dass wir in eine Gasnotlage mit Produktionsstopps und Lieferkettenabrissen hineinlaufen, Betriebe massiv in Schwierigkeiten geraten und hohe Arbeitslosigkeit droht, dann müssen wir auch über eine Nullrunde nachdenken. Unternehmen und Beschäftigte kommen in dieser schwierigen Zeit nur zusammen nach vorn. Unabdingbar ist für uns bei einem Abschluss, dass Unternehmen mit schlechter Ertragslage automatisch vom Flächentarif abweichen können. Diese Differenzierung, die wir mit dem letzten Abschluss erprobt haben, sollte zum Standardinstrument werden. Wir brauchen aber auch Variabilisierung.

Das heißt?
Den Tarifvertrag dafür zu öffnen, auf betrieblicher Ebene das Volumen bestimmter wiederkehrender Leistungen schwanken zu lassen. Wir müssen aber angesichts des Fachkräftemangels auch über mehr Arbeitszeitflexibilität reden und dafür einen Instrumentenkasten haben.

Keine bis wenige Lohnprozente und mehr Arbeitszeitflexibilisierung – wenn Sie bei dieser Haltung bleiben, wird die IG Metall wohl ordentlich Rabatz machen.
Die Gewerkschaft muss sich entscheiden, ob sie mit uns gemeinsam Rahmenbedingungen für einen weiterhin attraktiven Industriestandort schafft oder lieber Rabatz machen will.

Arbeitgeber verweisen in Tarifrunden gerne darauf, dass es sich andernorts billiger produzieren lässt. Aber verfangen solche Verlagerungsdrohungen noch angesichts der Lieferkettenprobleme, die wir aktuell erleben?
Ich glaube, dass wir Standortentscheidungen künftig viel stärker geopolitisch treffen müssen und nicht nur danach schauen dürfen, ob das ein Billiglohnland ist. Aber trotzdem gibt es Produktion, die zu den Kosten in Deutschland nicht mehr machbar ist. Und dann kann ich als Unternehmer nicht sagen, ich bleibe trotzdem hier und verliere jeden Tag Geld, sondern muss etwas tun.

Beschäftigte in der Metall- und Elektroindustrie gehören mit gut 60.000 Euro Durchschnittsverdienst im Jahr zu den Besserverdienern und profitieren doch von geplanten Entlastungen. Geht die Regierung zu großzügig mit den Hilfen um?
Untere Einkommen sollten stärker entlastet werden als Gutverdiener, das ist ganz klar. Ich selbst muss an der Stelle nicht unbedingt entlastet werden. Und ein Metaller in der obersten Entgeltgruppe 17 in Baden-Württemberg verdient etwa 110.000 Euro im Jahr – der braucht auch nicht die gleiche Unterstützung wie eine Verkäuferin oder Zahnarzthelferin. Wir dürfen nicht vergessen: Je mehr wir jetzt machen, desto stärker bauen wir eine Hypothek für die Jugend auf, die die Schulden abbezahlen muss.

 

Dieses Interview ist im Handelsblatt erschienen und wurde von Frank Specht geführt.