Interview mit Maja Reusch, zweite Bevollmächtigte der IG Metall Offenburg und Stephan Wilcken, Südwestmetall-Geschäftsführer.
Herr Wilcken, die Kaufkraft der Menschen schwindet durch die Inflation. Wäre eine Tariferhöhung jetzt nicht das Gebot der Stunde, um den Kaufkraftverlust auszugleichen?
Wilcken: Wir müssen schauen, woher der Kaufkraftverlust herkommt, der unstreitig bei rund acht Prozent liegt.
Genau der Bereich, den die IG Metall mit ihren acht Prozent mehr Lohn fordert.
Wilcken: Aber auch die Unternehmen verlieren an Kaufkraft, weil die Energie- und Zulieferpreise von Halbfertigprodukten und Rohstoffen dramatisch nach oben gehen. Unsere Unternehmen können das nicht mehr stemmen. Das fängt bei Kleinigkeiten an, wie die Erhöhung der Kosten für Paletten um 100 Prozent, weil es keine Nägel mehr gibt, um sie zu fertigen. Ein Großteil unserer Unternehmen hat eine Umsatzrendite von zwei Prozent und weniger bereits ohne diese Kostensteigerungen.
Sie wollen damit sagen, dass die Unternehmen gar keine Luft für Lohnerhöhungen haben.
Wilcken: Bei einem ganz großen Teil ist das so. Es gibt Unternehmen wie die Automobilhersteller, die auch in den letzten Tagen und Wochen Rekordgewinne erwirtschaftet haben, aber diese haben wir nicht in Südbaden.
Aber wir haben hier viele Zulieferer.
Wilcken: Der Automarkt selbst leidet auch, die Zahl der verkauften Autos geht von Jahr zu Jahr zurück, entsprechend können auch die Zulieferer nicht mehr so viele Teile verkaufen wie noch vor fünf Jahren. Außerdem können die höheren Kosten nicht an die Kunden weitergegeben werden. Gerade auch im Maschinenbau werden die Verträge lange im Voraus geschlossen. Wenn die Maschinen jetzt ausgeliefert werden, dann zu einem Preis, der vor einem halben Jahr oder einem Jahr kalkuliert wurde. Unsere Unternehmen sind ganz unterschiedlich aufgestellt, wir müssen aber einen gemeinsamen Tarifvertrag hinbekommen.
Frau Reusch, den Unternehmen geht es auch nicht gut, sie starren auf die Strom- und Gaspreise wie das Kaninchen auf die Schlange. Was helfen Arbeitnehmern bessere Löhne, wenn ihr Arbeitgeber in ein paar Monaten oder Jahren pleite ist?
Reusch: Auch wir stellen eine gewisse Ambivalenz fest, was den wirtschaftlichen Erfolg der Betriebe bei uns in der Region angeht. Es gibt eine Art Dreiteilung. Einem Drittel der Betriebe geht es sehr gut bis gut, bei einem Drittel läuft es so mittelgut, und ein Drittel hat Probleme. Ob das nur mit den Energiepreissteigerungen zu tun hat oder schon vorher der Fall war, ist schwer zu sagen. Im Frühjahr haben wir eine Umfrage unter allen Beschäftigten gemacht. Sie wollen eine tabellenwirksame Entgelterhöhung, also dass die Struktur angehoben wird. Interessanterweise waren es auch Beschäftigte in den Betrieben, in denen es nicht so gut läuft. Ja, Beschäftigungssicherheit ist wichtig, aber man möchte von seinem Lohn auch leben können. Wir haben einen langen Diskussionsprozess hinter uns, bei dem wir einen Blick zurück und nach vorne geworfen haben. Die acht Prozent, von denen wir jetzt sprechen, sind für uns schon ein Kompromiss und für die meisten Betriebe gut zu stemmen.
Wie viel hätten Sie gefordert?
Reusch: In der Tarifkommission gab es auch Stimmen, die mindestens eine zweistellige Erhöhung wollten, die Rede war von 15 Prozent. Das sind vielleicht eher die im Stuttgarter Raum zu verortenden Automobilbetriebe, aber insgesamt sind die acht Prozent ein Kompromiss. Wenn ein Betrieb wirklich in Schieflage ist, finden wir in der Regel gemeinsam mit Südwestmetall einen Weg.
In welchen Betrieben sehen Sie momentan keine Luft für eine Lohnerhöhung?
Reusch: Das sind Unternehmen, die viele Jahre verpasst haben, sich zu transformieren, zu investieren und sich auf neue Produkte und Innovationen einzustellen.
Aber sind das nicht ohnehin Unternehmen, die langfristig vom Markt verschwinden werden?
Reusch: Das hoffe ich nicht. Aber für Zulieferer, die stark am Verbrenner hängen, wird die Luft dünner. Irgendwann wird es keine Verbrenner mehr geben. Seitens der IG Metall haben wir einen Baustein gefunden mit dem Trafobaustein, der den Betrieben Luft verschafft, um nach vorne zu denken. Wir können dazu nur ein Werkzeug liefern, der Anstoß muss vom Betrieb kommen.
Die IG Metall spricht davon, dass die Auftragsbücher der Unternehmen immer noch voll sind. Trifft das zu, Herr Wilcken?
Wilcken: Ja, sie sind voll, aber nicht mehr so voll wie vor einem halben Jahr, und die Aufträge können nicht abgearbeitet werden, weil Zulieferteile fehlen. Weil die Häfen in China wegen Corona geschlossen wurden, weil in der Nordsee eine Vielzahl an Containerschiffen herumdümpelt, die nicht entladen werden können. Das ist das große Problem. Die Aufträge, die den Unternehmen vorliegen, wurden ihnen vor einem halben Jahr erteilt und zwar zu Preisen, die damals marktfähig waren, es heute aber nicht mehr sind. Ich kenne eine Gießerei im Schwäbischen, die bisher 240.000 Euro im Monat an Energiekosten hatte, heute sind es 700.000. Damit muss man erstmal leben. Die Transformation weg vom Verbrenner beschäftigt unsere Unternehmen schon eine ganze Weile, sie bedarf aber großer Investitionen in neue Maschinen in der Hoffnung, dass sie dann auch von den Automobilisten Aufträge für elektronische Bauteile bekommen. Unsere Firmen haben in der Finanzkrise 2008/09 und in der Pandemie viel Geld investiert, um Arbeitsplätze zu sichern und zwar erfolgreich. Die Kosten haben damals zu je einem Drittel die Arbeitnehmer getragen durch Verzicht auf Weihnachts- und Urlaubsgeld, die Agentur für Arbeit, die Kurzarbeit finanziert hat und die Unternehmen, die sehr viel Eigenkapital verbrannt haben. Wir hatten in ganz Südbaden keine Massenentlassungen aufgrund der Wirtschaftskrise. Unser Ziel in der jetzigen Tarifrunde muss sein, Arbeitsplätze zu sichern, die Firmen in der Tarifbindung zu halten und die Beschäftigen am Abschluss partizipieren zu lassen.
Die IG Metall fordert acht Prozent mehr Lohn, Südwestmetall will eine Nullrunde. Würden Sie diese Kluft als historisch bezeichnen?
Reusch: Ein Stück weit gehört es dazu, dass wir am Anfang auseinanderliegen. Dann folgt der Prozess, in dem wir einen Kompromiss finden, in dem sich beide Parteien wiederfinden.
Besteht derzeit aufgrund der Schieflage eines Drittels der Unternehmen nicht die Gefahr, dass diese bei überzogenen Forderungen aus dem Tarif aussteigen?
Reusch: Wir finden gerade nicht, dass die Forderungen überzogen sind. Die Betriebe haben anders als Herr Wilcken es sagt die Endkosten in vielen Fällen angehoben und an ihre Kunden weitergegeben. Das können die Beschäftigten nicht. Wir sehen, dass der Konsum abgewürgt wird, und damit tun sich die Betriebe auch keinen Gefallen. Die Kaufkraft muss erhalten bleiben, und die Menschen müssen die Produkte, die sie herstellen, ja auch kaufen können .
Wobei die Produkte des täglichen Bedarfs nur noch in wenigen Fällen aus Deutschland kommen, sondern aus Asien.
Wilcken: Wir haben wenige Unternehmen, die direkt diese Produkte fertigen, die von uns gekauft werden – Autos mal außen vor gelassen. Aber man darf nicht vergessen, dass wir seit 2010 in der Metall- und Elektroindustrie die Entgelte um knapp 33 Prozent erhöht haben, die Lebenshaltungsrate ist um knapp 18 Prozent nach oben gegangen. Da ist rein mathematisch noch ein Spielraum. Auch in den letzten Jahren hatten wir Entgelterhöhungen, nicht tabellenwirksam, aber durch neu „erfundene“ Sonderzahlungen. Diese kommen zwar nur einmal im Jahr, aber regelmäßig und sind nicht zeitlich befristet. Es ist eher ein optisches Problem. Die letzten zwei Jahre hat es auf den Monat geblickt keine Erhöhung gegeben. Die Beschäftigten schauen aber, was sie am Ende des Monats überwiesen bekommen. Wir sollten deshalb die Sonderzahlungen auf den Monat umlegen.
Frau Reusch, wie ist denn die Stimmung unter den Beschäftigten.
Reusch: Die Corona-Pandemie hat die Menschen stark gebeutelt, da ist auch viel Zwischenmenschliches auf der Strecke geblieben. Das wirkt noch nach. Die Stimmung insgesamt ist nicht so gut, egal in welches Unternehmen ich komme.
Spielt da auch eine Unsicherheit mit rein, wie es mit dem Unternehmen, bei dem man beschäftigt ist, weitergeht?
Reusch: Man muss mit den Krisen erst einmal umgehen können. Wenn eine Krise der anderen die Klinke in die Hand gibt, dann überfordert das jeden Einzelnen, und man macht sich Gedanken. Wir sehen jetzt, wie abhängig wir sind. Wir haben jetzt einen Krieg in Europa, der innerhalb kürzester Zeit auch in unserer Gesellschaft und den Betrieben für Verwerfungen gesorgt hat. Wir hatten Betriebe, da gab es richtige Auseinandersetzungen zwischen russisch- und ukrainischstämmigen Bevölkerungsgruppen.
Wilcken: Ähnliche Situationen hatten wir schon während des Jugoslawienkriegs.
Reusch: Aktuell macht den Menschen am meisten Angst, wie sie ihr Leben bestreiten können. Vor allem in den unteren Entgeltgruppen ist das ein Thema. Wir sind zum Glück noch in einer Branche mit einem guten Lohngefüge. Aber ich vernehme eine enorme Erwartungshaltung, dass die Entgelte steigen.
Die Metall- und Elektroindustrie galt lange als sichere Bank mit relativ hohen Gehältern und sicheren Arbeitsplätzen. Würden Sie einem jungen Menschen aktuell noch eine Ausbildung in dieser Branche empfehlen?
Reusch: Wenn ich heute einen Beruf erlerne, bedeutet das, dass ich lebenslang lernen muss, dass sich die Berufsbilder über eine Erwerbsbiographie hinweg verändern. Das hat sich seit einigen Jahren herumgesprochen. Wer heute eine Ausbildung macht, ist in der Metall- und Elektroindustrie sehr gut aufgehoben, weil unsere Ausbildung hervorragend ist und wir gute Betriebe haben. Dass man sich weiterqualifizieren muss, gilt für jeden Beruf. Nach wie vor sind die Bewerberzahlen in der Branche im Vergleich mit anderen gut.
Der Fachkräftemangel dürfte in der Hotellerie und Gastronomie größer sein.
Wilcken: Erheblich größer. Aber er ist auch bei uns angekommen. 40 Prozent unserer Betriebe klagen darüber, dass sie auch deshalb Aufträge nicht abarbeiten können, weil Fachkräfte fehlen. Die Babyboomer sterben auf dem Arbeitsmarkt allmählich aus. Auch ich würde jungen Menschen ohne Wenn und Aber empfehlen, sich mit einer Ausbildung in der Metall- und Elektroindustrie auseinanderzusetzen.
Auch wenn die Lage momentan so schlecht ist, dass Lohnerhöhungen Ihrer Meinung nach nicht drin sind?
Wilcken: Ja, weil die Branche gezeigt hat, dass man genug Fantasie besitzt, um die Arbeitsplätze zu sichern. Damit meine ich auch die Arbeitnehmer und uns. Wir haben 2008/09 damals überall Sanierungstarifverträge abgeschlossen. Am Ende des Tages werden wir auch in dieser Tarifrunde einen Abschluss haben, der nicht alle zufriedenstellt, der natürlich ein Kompromiss ist. Wir müssen dann schauen, wie wir in einzelnen Firmen mit dem Abschluss individuell umgehen. Das wird unser Job sein. Ich warne vor einem Abschluss, der uns nötigt, anschließend f lächendeckend Abweichungen zu vereinbaren. Der Spielraum kann natürlich nicht in der Tabelle sein, sondern nur mit Sonderzahlungen. Es kann nicht sein, dass derselbe Job in der einen Firma in der Tabelle besser bezahlt wird als in der anderen. Dieses gefährliche Spiel wurde in Nordeuropa vor einigen Jahren gespielt, ich halte es für sehr riskant. Unser System ist gut austariert, daran darf man nicht rütteln.
Wie verhärtet sind bereits die Fronten?
Reusch: Einmalzahlungen werden wir unseren Beschäftigten nicht vermitteln können, auch weil das keine nachhaltige Antwort auf die andauernde Inflation ist. Wir haben mit Beginn von Corona eine Tarifrunde ausgesetzt, da waren wir schon solidarisch, dann den Trafobaustein, der eine wiederkehrende Einmalzahlung darstellt. Die Leute haben die Nase voll von Sonderzahlungen und wollen, dass die Monatsentgelte steigen. Davon sind auch Schichtzuschläge abhängig. Deshalb brauchen wir eine strukturelle Entgelterhöhung. Im Schnitt haben wir zehn Prozent an Preiserhöhungen in den Betrieben, die Lohnkosten liegen bei 20 Prozent. Wenn wir die um acht Prozent erhöhen, liegen wir bei einem Plus von 1,6 Prozent insgesamt für den Betrieb. Wir möchten auf jeden Fall, dass so viele Betriebe wie möglich weiterhin tarifgebunden sind.
Wie viele sind denn momentan tarifgebunden?
Wilcken: Das lässt sich schlecht sagen. Wenn wir die Flächentarifbindung nehmen, dann hatten wir in den letzten Jahren sicher keinen hohen Zuwachs. Aber bei den Firmentarifverträgen hatten wir in Südbaden hohe Zuwächse, dass wir also individuelle Tarifverträge für eine Firma haben. Die von Frau Reusch angesprochene Lohnkostenquote von 20 Prozent gibt es bei uns in der Region so gut wie gar nicht. Wir liegen zwischen 30 und 40 Prozent.
Woran liegt das?
Wilcken: Speziell im Automobilzulieferbereich wird noch viel Arbeitskraft benötigt, um die Produkte herzustellen. Der Automatisierungsgrad ist nicht so groß wie bei den Automobilisten selbst. Wir haben noch viel Handwerk in den Unternehmen, was auch gut und richtig ist. Ich bin seit über 30 Jahren bei den Arbeitgeberverbänden. Wir haben bisher noch immer einen Abschluss gefunden, zu dem beide Seiten stehen können.
Frau Reusch, für wie realistisch halten Sie in der aktuellen Situation Streiks?
Reusch: Es ist die Ultima Ratio, aber der Druck ist groß bei den Beschäftigten. Wir sind für den Ernstfall aber gut vorbereitet. Ich hoffe, dass wir uns ohne Streiks einigen. Dazu müsste nun ein Angebot der Arbeitgeber vorgelegt werden.
Dieses Interview ist im Offenburger Tagesblatt erschienen.