Interview mit Dr. Joachim Schulz, Vorsitzender der Südwestmetall.
Herr Schulz, Sie haben gesagt, die IG Metall betreibe mit ihrer Acht-Prozent-Forderung hartnäckige Realitätsverweigerung. Ist es nicht eher so, dass die Arbeitgeber die Realität einer Inflationsrate von knapp acht Prozent nicht sehen wollen?
Die Arbeitgeber spüren die Preissteigerung ebenfalls, weil sie auch die Betriebe trifft. Und deshalb bleibe ich dabei, dass diese Forderung an der Realität vorbeigeht.
Die IG Metall sagt, es habe beim letzten Tarifabschluss ein gemeinsames Verständnis gegeben, sich in der nächsten Runde die Preisentwicklung des Jahres 2022 noch einmal anzuschauen. Stimmt das nicht?
In unserem Tarifvertrag, der im Herbst ausläuft, gibt es keine rückwirkende Klausel, dieses Jahr noch tarifpolitisch aufzuarbeiten. Falls es sie doch geben sollte, lasse ich sie mir von der IG Metall gerne zeigen.
Die Gewerkschaft argumentiert, sie habe sich bei den Corona-Abschlüssen der Jahre 2020 und 2021 sehr zurückgehalten und die letzte Tabellenerhöhung liege vier Jahre zurück …
Dem Abschluss des Jahres 2021 lag eine Prognose über die wirtschaftliche Entwicklung zugrunde, die viel positiver war als die Realität. Und auch ohne Tabellenerhöhung sind die Löhne durch wiederkehrende Einmalzahlungen nach 2018 um fünf Prozent gestiegen, obwohl wir bei der Produktion immer noch um zwölf Prozent unter Vorkrisenniveau 2018 liegen.
Inwieweit gelingt es den Unternehmen, gestiegene Energie- und Rohstoffpreise an die Kunden weiterzugeben?
Anders als in der Stahlindustrie sehen wir in unserer sehr breit aufgestellten Branche bei der Mehrzahl der Unternehmen sinkende Erträge, weil es eben nicht gelingt, alle Kostensteigerungen weiterzugeben. Besonders Zulieferer haben bei ihren Industriekunden kaum Möglichkeiten, Preissteigerungen durchzusetzen, weil auch diese ihrerseits enorme Preissteigerungen zu verkraften haben.
Es schreiben aber auch Unternehmen Rekordgewinne. Sie fordern deshalb differenzierte Lösungen, die der betrieblichen Realität Rechnung tragen. Verabschieden Sie sich da nicht vom Flächentarif?
Die IG Metall und wir Arbeitgeber bekennen uns gemeinsam zur Tarifautonomie und zum Flächentarif. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, wie die wirtschaftliche Situation der Unternehmen auseinander läuft. Und die wenigen Unternehmen mit Rekordgewinnen dürfen nicht den Blick darauf verstellen, dass wir bei einer Vielzahl von Betrieben Probleme haben.
Wie sollte die Differenzierung aussehen?
Was nicht geht, ist eine richtig hohe gemeinsame Tabellenerhöhung, die den Unternehmen in Schwierigkeiten die Luft abdrehen würde. Wir werden auch über Möglichkeiten für einzelne Unternehmen reden müssen, auf die Zahlung einzelner Leistungen zu verzichten.
Die Auftragsbücher der Metall- und Elektroindustrie sind voll wie nie. Da können Sie es doch gar nicht auf einen Streik der Gewerkschaft ankommen lassen, oder?
Die Auftragsbücher sind voll, weil die Unternehmen sie wegen Teilemangels nicht abgearbeitet bekommen, die Neubestellungen gehen zurück. Natürlich wären Streiks in der gegenwärtigen Situation schlecht, aber wir wollen als Arbeitgeber auch nicht erpressbar sein.
In aufgeheizten Tarifkonflikten drohen die Arbeitgeber gern mal mit Produktionsverlagerungen ins Ausland. Angesichts der Probleme, die wir aktuell mit Lieferketten aus dem Ausland haben, nimmt sie da aber doch niemand mehr ernst, oder?
Das gemeinsame Interesse, das uns mit der IG Metall verbindet, ist, die Industriestruktur in Deutschland zu erhalten. Und dafür brauchen wir internationale Wettbewerbsfähigkeit. Es gibt für viele Firmen ja auch im europäischen Umfeld noch genug Optionen, günstiger zu produzieren. Schauen Sie sich das Beispiel Ford in Saarlouis an. Ich kann nur jedem raten, das Thema Verlagerung nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.
Vor Corona und dem Ukrainekrieg war die Transformation der Industrie das große Thema. Wird die jetzt auf die lange Bank geschoben?
Nein, weil die Transformation in vielen Betrieben längst angekommen ist. Alte Arbeitsplätze fallen weg, neue entstehen. Wenn Sie heute aber eine Arbeitnehmerin oder einen Arbeitnehmer vom bisherigen Arbeitsplatz woandershin versetzen wollen, ist das ein relativ aufwendiges Prozedere. Daran müssen wir arbeiten, da brauchen wir mehr Flexibilität und Schnelligkeit. Die könnten wir auch in einem Tarifvertrag fördern.
Zurück zur Inflation. Auch die Gewerkschaft sagt, die aktuell hohen Preissteigerungsraten ließen sich nicht allein mit Mitteln der Tarifpolitik ausgleichen. Was erwarten Sie von der konzertierten Aktion der Politik?
Ich erwarte, dass die Politik sich um die Schwachen der Gesellschaft kümmert, um die, die bisher gerade so über die Runden kamen und denen jetzt Existenznot droht. Dazu gehören Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie, die in Baden-Württemberg im Schnitt ein Jahreseinkommen von 66.000 Euro haben, nicht. Der Staat kann nicht gegen die Energiewirtschaft weltweit pokern, das wird er finanziell nicht schaffen.
Was muss die Politik tun, um die Energieversorgung zu sichern?
Die Politik muss alles dafür tun, dass bei uns die Lichter nicht ausgehen, auch nicht in der berühmten Dunkelflaute. Dazu muss sie neue Energiequellen erschließen und bei Bedarf auch drei Atomkraftwerke weiterlaufen lassen. Wir haben aber auch unsere Einsparmöglichkeiten noch nicht voll ausgeschöpft, das gilt für die Industrie wie auch für die Privathaushalte. Und trotzdem dürfen wir auf keinen Fall die Klimaziele aus dem Blick verlieren. Das sehen wir in diesem extrem heißen und trockenen Sommer.
Wir haben gesehen, wie gefährlich die Energieabhängigkeit von Russland war. Laufen wir mit China in eine ähnliche Gefahr hinein? Bei den Maschinenbauern steht die Volksrepublik für elf Prozent des Geschäfts, bei den Autobauern sind es teils 40 bis 50 Prozent.
Viele Unternehmen beschäftigen sich gerade intensiv mit der Frage, wie sie strategisch mit China umgehen wollen. Die Industrie hat über Jahrzehnte dort gute Geschäfte gemacht und den Chinesen technologisch aufs Pferd geholfen. Ich hoffe sehr, dass mit China alles friedlich bleibt und wir nicht in eine Situation laufen wie mit Russland. Denn die Auswirkungen wären noch viel gravierender.
Dieses Interview ist im Handelsblatt erschienen.