Interview mit Stefan Moschko, ME Berlin Brandenburg Verhandlungsführer.
Herr Moschko, wie bedrohlich ist die Energiekrise für die regionale Wirtschaft?
Die Berichte aus einzelnen Branchen werden immer düsterer. Auch aus dem Einzelhandel. Ein Händler mit mehreren Filialen, der bislang 300 000 Euro im Jahr für Strom bezahlt hat, soll im kommenden Jahr eine Million Euro zahlen. Ähnlich ist es im Gastgewerbe, was im Moment noch boomt, weil es einen riesigen Nachholbedarf gibt. Doch das ist bald vorbei, denn die explodierenden Energiekosten können niemals 1:1 an die Kunden weitergegeben werden. Es wird ganz, ganz schwierig.
Ein schwacher Trost: In Berlin gibt es wenig energieintensive Industrie.
Aber wir haben Industrie, und die braucht Gas als Prozessgas. Oder nehmen wir Siemens mit mehreren Fabriken in Berlin und Brandenburg: Der Konzern verbraucht nicht sehr viel Energie, ist aber mittelbar betroffen, weil Siemens-Kunden energieintensiv sind. So baut sich im Moment eine richtige Welle auf, die ganze Wertschöpfungsketten trifft. Jeder dritte Industriebetrieb sieht mittlerweile seine Existenz bedroht.
Aufgrund des Gas- oder des Strompreises?
Sowohl als auch. Auf den Terminmärkten sehen wir absurde Strompreise für das nächste Jahr. Die Strompreise werden das große Thema werden. Der Bundeswirtschaftsminister muss sich beeilen mit dem Aufspannen der von ihm angekündigten Rettungsschirme. Auch auf den Energiemärkten spielen Psychologie und Spekulation eine große Rolle. Deshalb sind klare, wirksame Entscheidungen ganz wichtig.
Das sagt sich so leicht, wenn Putin am Gashahn alles durcheinanderbringt.
Umso wichtiger ist eine problemadäquate, vernünftige Politik. Das Rumgeeiere um die Atomkraft ist das Gegenteil von rationaler Politik.
Rational betrachtet sind die Strommengen der drei AKW vernachlässigbar.
Vernachlässigbar sind sie nicht, und vor allem psychologisch ist das wichtig. Wir hören aus der Stromwirtschaft, dass es ein starkes Signal wäre, wenn die drei AKW am Netz bleiben würden. Und jedes Volumen, das zur Überwindung von Knappheit beiträgt, ist willkommen. Alles, was an Erzeugungskapazitäten zur Verfügung steht, muss jetzt ans Netz. Nur so kommen die absurd gestiegenen Preise wieder ins Lot.
Wie könnte ein Schutzschirm aussehen?
Die bisherigen Entlastungspaket waren im Großen und Ganzen gut und richtig. Aber abgesehen von Liquiditätshilfen und Unterstützungen für energieintensive Unternehmen war für die Masse der 3,6 Millionen Betriebe nichts dabei. 9000 Betriebe sind bundesweit als gefährdete und gleichsam systemrelevante Betriebe identifiziert. Doch allein in Berlin-Brandenburg machen 90 Prozent der Unternehmen aus der Metall- und Elektroindustrie Geschäfte mit diesen Betrieben. Auf diese große Masse muss sich der Blick der Politik richten.
Woher kommt das Geld für weitere Entlastungen?
Vom Staat.
Die Ampel steht auf der Schuldenbremse.
Die Schuldenbremse ist wichtig. Und die bisherigen Entlastungspakete konnten geschnürt werden trotz Schuldenbremse. Es gibt Spielräume im Haushalt, die genutzt werden sollten, um massive wirtschaftliche Schäden zu vermeiden.
Droht dem Industrieland eine Deindustrialisierung?
Allein in der Metall- und Elektroindustrie, mit dem Maschinen- und dem Fahrzeugbau ist das der größte Industriebereich, haben sich die Energiekosten seit 2019 um 465 Prozent erhöht: Sie sind von elf Milliarden Euro auf 52 Milliarden Euro gestiegen. Das Geld müssen die Betriebe erst einmal verdienen. In anderen Länder, zu Beispiel die USA, erreichen die Energiekosten nur ein Bruchteil des deutschen Niveaus. Wer viel Energie braucht und weltweit aufgestellt ist, der wird womöglich nicht mehr in Deutschland investieren.
Jetzt steht auch noch eine Tarifrunde an, die IG Metall fordert acht Prozent, die Erwartungen der Beschäftigten sind ähnlich groß wie die Inflationsrate.
Wir haben explodierende Energiekosten, Materialknappheit und höhere Preise für Vorprodukte. Dazu die Ungewissheit über die nächsten Monate, niemand weiß, wie schlimm die Rezession wird. Hinzu kommen Mega-Trends wie Digitalisierung und Dekarbonisierung. Und Corona ist auch noch ein Thema. In dieser Situation sich überlagernder und verstärkender Krisen stehen Tarifverhandlungen an. Ich verhandle seit 2007 über Tarifverträge, doch so schwierig wie jetzt war die Ausgangslage noch nie. Dieses Jahr lässt sich übersehen, die Bücher sind voll, aber 2023 ist völlig offen.
Sie schließen aber einen Vertrag für 2023.
Wenn es ganz schlimm wird, müssen wir die Karten neu mischen und im Verlauf des nächsten Jahres reaktionsfähig sein.
Dann wollen Sie den Beschäftigten in die Tasche greifen?
Nein. Aber wir müssen auf die ums Überleben kämpfenden Betriebe Rücksicht nehmen. Ein paar Hosenträger müssen wir im Tarifvertrag einziehen. Das betrifft flexible Arbeitszeiten und eine automatische Differenzierung, um die Vielfalt der Betriebe und ihrer wirtschaftlichen Situation abbilden zu können. Sonst kommen wir nicht durch die Tür.
Die IG Metall hat ihren Mitgliedern gesagt, dass es einen Inflationsausgleich per Tariferhöhung nicht geben kann.
Das war wichtig, und dafür sind wir dem IG-Metall-Vorsitzenden Jörg Hofmann auch dankbar.
Hilft die Inflationsprämie von 3000 Euro, die die Bundesregierung steuer- und abgabenfrei stellen will?
Möglicherweise. Aber Achtung: Viele Menschen denken, die 3000 Euro würden automatisch gezahlt. Es gibt aber Betriebe, die können nicht einen Euro zusätzlich zahlen. Was aus unserer Sicht nicht fehlen darf, ist eine weitere Flexibilisierung bei der Arbeitszeit. Am Ende des Tages werden wir auch länger arbeiten müssen, anders kriegen wir die Probleme auf dem Arbeitsmarkt und in den Sozialsystemen nicht in den Griff.
Sie haben im vergangenen Jahr einen Tarifvertrag unterschrieben, der den Weg zur 35-Stunden-Woche in der ostdeutschen Metallindustrie freigemacht hat.
Es waren über viele Jahre schwierige Verhandlungen. Am Ende haben wir dann einen tariflichen Rahmen gefunden für betriebliche Lösungen, bei denen Kostensteigerungen, die in Folge kürzerer Arbeitszeit ent-stehen, kompensiert werden können. Gesellschaftspolitisch gesehen war die Zeit reif für die Angleichung der Arbeitszeit an das westdeutsche Niveau. Gerade in Ber-lin: Es konnte doch keiner erklären, dass man am Gendarmenmarkt länger arbeiten muss als in Siemensstadt.
Vergangene Woche gab es erstmals mit Franziska Giffey eine Sitzung des Steuerungskreis Industriepolitik, in dem Senat, Verbände, Kammern und Gewerkschaften sich abstimmen. Was kommt dabei raus?
Wir sind uns alle einig: Dass darf keine Plauderrunde sein, sondern wir wollen Entscheidungen treffen beziehungsweise Entscheidungen des Senats vorbereiten oder flankieren. Das hat Frau Giffey bekräftigt, und mit Stephan Schwarz haben wir dazu einen Wirtschaftssenator, der etwas von Wirtschaft versteht. Im Moment beschäftig uns alle die Energiekrise, doch die Transfor-mation läuft ja weiter. In Berlin können Digitalisierung und Dekarbonisierung gut gelingen, weil wir viel Wissenschaft und Start-ups haben, die wir mit den Unternehmen zusammenbringen müssen.
Wie groß ist der Fachkräftemangel?
Wir brauchen in Berlin 128 Tage, um eine freie Stelle zu besetzen, in Brandenburg sind es sogar 180.
Dieses Interview ist im Tagesspiegel erschienen.